Tarcisis Protokoll »Bedrängende Nähe»

Von Dr. Rudolf Schilling, Rektor Höhere Schule für Gestaltung, Zürich

Er führt jeden Tag Protokoll, über die Zeitläufte, über die täglichen Schrecknisse, über die in ihm ausgelösten Gefühle – gute wie ungute.

Er schreibt in eine hochformatige Agenda was ihn bewegt hat, was ihm begegnet ist, z. B. auch in einem Buch: «Es gibt nur Momente der Nähe» (Ludwig Hohl). Seit November 1990 setzt er schubweise das Tagebuch in Bild um. «Ein Schub», das sind vier bis fünf auf zwei Meter Leinwand ab der Rolle, soviel auf dem Atelierboden eben Platz hat. Der Rest der Rolle bleibt eingerollt; darauf werden die nächsten Schübe folgen. Abgeschnitten wird nicht.

Er arbeitet auf den Knien – von allen vier Seiten – mit Acryl, Dispersion, Teer. Zuerst eine Grundstimmung in Farbe – es kann auf den ca. 10 ausgelegten Quadratmetern aber auch zu zwei oder mehreren Stimmungen kommen. Über und auf den Stimmungsgrund folgen Zeichen, Bildzeichen, Schriftzeichen, da und dort, nicht überall, manchmal ein ganzer Satz aus dem Tagebuch: «Der Maler gebar Ideen wie das kranke Muscheltier Perlen.» Seit November 1990 ist Tarcisis Protokoll 140 Meter lang geworden. Ein in der Tendenz unendliches Protokoll, ein Endlosbild ohne oben und unten, ohne links und rechts, Bild ohne Begrenzung, in keinen Rahmen hineinkomponiert, ein Bildstrom, der ins Universum strömt. «In welchen Farben sich die Welt in (m)einem Kopf mal, kann ich mir nicht aussuchen.»

Das Bildprotokoll ist in Tarcisis Atelier aufbewahrt in mächtigen Rollen – wie Teppichmeterware. Zur Besichtigung entrollt er eine Rolle nach der andern. Doch schon eine einzelne Rolle ist länger als der Raum und kann auch wieder nur schubweise betrachtet werden. Es bleibt stets bei der Teilbesichtigung. Der Versuch, des Bilduniversums ansichtig zu werden, scheitert immer wieder an den Begrenztheiten, an der «conditio humana», gegen die der Maler Tarcisi ankämpft. In allen Dimensionen will er über die Grenzen. Wissend, dass das nie gelingen kann, versucht er es immer wieder von neuem, Schub um Schub. «Ich riskiere den Wahnsinn.»

Er hat es auch in anderen seiner Programme versucht, wie er sagt, auf andere Weise:
«366 Bilder in 366 Tagen», «Verschneidebilder», «Albisriederplatz: Ein Platz – Tausend Leben». Stets sprengt er die Rahmen, reisst er die (Bilder)rahmen ein. Er malt nicht Bilder, er malt Bild. Das gilt sogar für die Folge «Surselva in 21 Bildern»: Derselbe Weltausschnitt in 21 verschiedenen Stimmungen und Gestimmtheiten – es könnten auch 34 oder 170 sein. Und er meint auch unendlich viele, weil es unendlich viele gibt. Schritte ins Universum, in diesem Fall nicht in die sich immer weiter ausdehnende Fläche, sondern in die unendliche Tiefe. Auch dies ein Protokoll ohne Ende, in dem jeder Teil gleich gültig ist – oder gleich ungültig. «La vraie vie est absente.»

Im Programm der «Zerschneidebilder» in der Galerie Frankengasse in Zürich 1995 hat Tarcisi den Schauenden die Aufgabe gestellt, aus dem uferlosen Bildteppich ein Stück eigene Welt herauszupräparieren, einen für ihn/sie relevanten Ausschnitt zu suchen, auszuwählen und den Ausschnitt physisch real herauszuschneiden. Tarcisi zwang die wahrnehmenden Menschen zu einer Entscheidung: Aus der grenzenlosen Fülle der Möglichkeiten eine zu wählen und damit alle andern zu verwerfen. – Und er liess uns, indem er uns zum Schneiden ins Bild zwang, den Schmerz der Entscheidung spüren, den Schmerz der Beschränkung . «Immanuel Kant litt an Herzbeklemmung mit Verstimmung bis zum Lebensüberdruss.» Tarcisis Protokoll ist nicht zum Verschneiden. Er schrieb mir sogar, dass dies bei diesem Programm nicht angehe. Mit diesem Versuch will er uns hineinreissen in den Strom, uns mitströmen lassen über alle Ränder hinaus, uns miterleben lassen, was es heisst, sich an keinem rettenden Ring oder Rahmen mehr halten zu können. «Ich sehe Einzelbilder, die sich jagen und bedrängen. Ich kann sie nicht einzeln malen, sie fliessen zu schnell.»

Text aus der Publikation: Tarcisi, Bedrängende Nähe, Eigenverlag 1998