Tarcisi – eine Würdigung

von Steffan Biffiger, Kunsthistoriker

Der Künstler Tarcisi, mit bürgerlichem Namen Tarcisi Cadalbert, wurde 1943 in Sevgein (Surselva) geboren und lebte ab 1963 vorwiegend in Zürich, wo er sich neben seinem Jus-und Sozialpädagogik-Studium an der Universität und später neben seiner Arbeit als Sachbearbeiter und Sekretär beim Tages-Anzeiger immer mehr autodidaktisch mit Malerei auseinandersetzte und schliesslich mit regelmässigen Ausstellungen und Aktionen in der Zürcher Kunstszene und darüber hinaus bekannt wurde.

Seine ersten Bilder waren Arbeiten nach der Natur, die ihn immer wieder faszinierte und für die er sich auch immer wieder schützend mit seiner Malerei einsetzte. Es sind spontan und locker gemalte Aquarelle mit Landschaften und Bergansichten aus dem Bündnerland. Später werden die Themen vielfältiger, die Bilder grösser. Seine Malerei wird wild und unbändig, geht sehr von seiner persönlichen Betroffenheit und seinen Gefühlen aus. In der Malerei sucht er in allgemein gültiger Form sein Leiden an der Welt darzustellen oder wenigstens seine Ängste zu bannen, was ihm wohl nur ansatzweise gelungen ist, ihn aber durch seine Offenheit verletzlich machte. «Bedrängende Nähe» heisst denn auch sein in den 1990er Jahren entstandenes, monumentales Bildprojekt auf einer 2 Meter hohen und 170 Meter langen Bilderrolle, das er 2001 im Kunstmuseum Olten präsentieren konnte. Dieses apokalyptische Panorama stellt wohl sein Hauptwerk dar, eine Art künstlerisches Vermächtnis, in dem er alles, was ihn beschäftigte, was ihm nahe kam, verarbeiten konnte. In eigenen Worten erklärte er, was ihn zu diesem Riesengemälde antrieb: «Ich kann die Welt nicht malen, als sei sie ein blühender Obstgarten. Und ich kann das Elend dieser Welt nicht in Einzelbildern festhalten. Die Bilder laufen zu schnell, sie jagen und überlagern sich. (…) Sie pendeln zwischen Gegenständlichkeit und Ungegenständlichkeit, zwischen Realität und Fiktion. Ich male, was ich sehe und empfinde: Ein Baumstamm ist Bein und Bergrücken zugleich, ein Stein ist Kopf, Augen sind Risse und Wunden und Wunden sind Augen. Mein Malen ist wie das Erzählen einer langen Geschichte oder das Komponieren einer Symphonie ohne Ende und Ausgang.»

1981 war Tarcisi, zusammen mit Gian Andri Albertini und Brian C. Thurston, Mitbegründer der Malergruppe WIND, mit der er eine Reihe von Ausstellungen bestritt; auch später arbeitete er sporadisch mit andern Künstlern zusammen. 1989 veröffentlichte er sein grosses «Greina-Panorama» in 21 Einzelbildern von 120×160 cm Grösse, mit dem er sich gegen das Stauseeprojekt auf der Greinaebene einsetzte. Dabei beliess er es aber nicht bei den Bildern, sondern er äusserte seinen Unmut auch in Form von Aktionskunst, indem er etwa medienwirksam zur Paravent-Verbrennung vor dem Öko-Hotel Ucliva in Waltensburg einlud.

In andern Programmen und Aktionen suchte er den Betrachter vermehrt einzubeziehen, seine Wahrnehmung zu schulen und seine Entscheidung zu forcieren, etwa wenn er 1995 in einer Züricher Galerie den einzelnen Besucher aufforderte, sich aus dem grossen uferlosen Bildteppich ein Stück herauszusuchen und herauszuschneiden und ihm so den Prozess des Auswählens und Verwerfens sowie den Schmerz der Entscheidung bewusst machte.

Im Surselva-Zyklus gestaltete er 1997 ein versöhnliches Porträt seiner Heimat: In 21 grossformatigen Bildern präsentierte er denselben Weltausschnitt in 21 verschiedenen Stimmungen und Gestimmtheiten, eine malerisch reiche Ausbeute an Farben, Formen und Bewegungen.

Mit der eindrücklichen, 14-teiligen Serie von abstrakten Passionsbildern, die ebenfalls die Farben der Heimat kontrastreich umsetzen und mit dem Leidensthema verbinden, gelang Tarcisi 2003 anlässlich der sommerlichen Freilichtaufführungen der Passion in Vella noch ein vielbeachteter Höhepunkt in seiner Malerei; doch er war von der Krankheit bereits gezeichnet, der er ein paar Monate später, knapp 60-jährig, erliegen sollte.


© 2012 www.kunstundbuch.ch